16
«Ein Herr wünscht Sie zu sprechen, Madame.»
Die Dame, die im Schreibzimmer des Durham Hotels an einem Tisch saß und schrieb, wandte den Kopf, erhob sich und kam uns mit fragender Miene entgegen.
Mrs Tanios’ Alter war schwer bestimmbar; über dreißig war sie jedenfalls. Sie war eine große, schlanke Frau mit dunklem Haar, vorquellenden hellen Augen und bekümmertem Gesicht. Sie trug ein modernes Hütchen, hatte es aber falsch aufgesetzt, und ihr Baumwollkleid sah zerdrückt aus.
«Ich glaube nicht – », begann sie unschlüssig.
Poirot verbeugte sich. «Ich komme von Ihrer Kusine, Miss Theresa Arundell.»
«Oh, von Theresa?»
«Könnte ich Sie kurz sprechen?»
Mrs Tanios sah mit leerem Blick umher. Poirot deutete auf ein Lederkanapee an der Stirnseite des Schreibzimmers.
«Mutti, wohin gehst du?», quäkte eine schrille Stimme.
«Ich setze mich nur dorthin. Schreib deinen Brief weiter, Liebling!»
Das Kind, ein mageres, spitz aussehendes Mädchen von etwa sieben Jahren, wandte sich wieder seiner anscheinend mühsamen Arbeit zu.
Wir setzten uns. Mrs Tanios sah Poirot fragend an.
«Es handelt sich um den Tod Ihrer Tante, Miss Emily Arundell.»
Bildete ich mir das ein, oder flackerte wirklich Angst in ihren Augen?
«Ja?»
«Miss Arundell änderte ihr Testament kurze Zeit vor ihrem Tod», fuhr Poirot fort. «Nach den neuen Bestimmungen erbt Miss Wilhelmina Lawson das ganze Vermögen. Ich komme, Mrs Tanios, um Sie zu fragen, ob Sie sich Miss Theresa und Mr Charles anschließen und das Testament anfechten wollen.»
«Oh!» Mrs Tanios atmete tief aus. «Aber ich glaube, das wird doch nicht möglich sein! Mein Mann hat nämlich einen Rechtsanwalt um Rat gefragt, und der war der Meinung, dass keine Aussicht besteht.»
«Rechtsanwälte sind vorsichtig, Madame, und weichen einem Prozess lieber aus. In den meisten Fällen haben sie auch wirklich Recht. Aber manchmal lohnt es sich, ein Risiko einzugehen. Ich bin kein Anwalt und sehe die Sache daher mit anderen Augen. Miss Theresa Arundell ist bereit, den Kampf aufzunehmen. Und Sie?»
«Ich? Ich weiß wirklich nicht – » Sie knetete nervös die Finger. «Ich müsste meinen Mann fragen.»
«Selbstverständlich müssen Sie Ihren Mann fragen, bevor irgendwelche Schritte unternommen werden. Aber was sagt Ihnen Ihr Gefühl in dieser Angelegenheit?»
«Ich – ich weiß wirklich nicht.» Mrs Tanios sah noch bedrückter drein. «Das hängt ganz von meinem Mann ab.»
«Aber was ist Ihre Ansicht, Madame?»
Mrs Tanios zog die Stirn in Falten und antwortete langsam: «Ich bin nicht sehr dafür. Es sieht so – es gehört sich eigentlich nicht.»
«Finden Sie, Madame?»
«Ja – da Tante Emily ihre Familie nun einmal enterbt hat, müssen wir uns wohl damit abfinden.»
«Sie tragen es ihr also nicht nach?»
«Oh, doch!» Ihr Gesicht rötete sich. «Ich halte es für sehr ungerecht. Höchst ungerecht! Und es kam so unerwartet, es sah Tante Emily gar nicht ähnlich. Und es ist so hart gegen die Kinder.»
«Sie hätten es von Miss Emily Arundell nicht erwartet, wie?»
«Nicht im entferntesten.»
«Wäre es mithin nicht möglich, dass sie nicht aus freiem Willen handelte? Halten Sie es für denkbar, dass sie beeinflusst wurde?»
Mrs Tanios runzelte wieder die Stirn und antwortete fast widerwillig: «Ich kann mir Tante Emily unter irgendeinem fremden Einfluss einfach gar nicht vorstellen. Sie war eine so energische alte Dame.»
Poirot nickte. «Das ist wahr. Und Miss Lawson lässt sich schwerlich als energischer Charakter bezeichnen.»
«Nein, sie ist eine nette Person, ziemlich einfältig, aber sehr, sehr lieb. Auch deshalb fühlte ich mich nicht – nicht – »
«Nun, Madame?», drängte Poirot sanft, als sie abbrach.
Mrs Tanios spielte nervös mit den Fingern. «Nun ja, ich meine, es wäre unrecht, das Testament anzufechten. Ich habe das sichere Gefühl, dass es nicht Miss Lawsons Werk war. Sie ist bestimmt nicht imstande, Ränke zu schmieden und zu intrigieren – »
«Ich bin vollkommen Ihrer Ansicht, Madame.»
«Und deshalb halte ich eine Klage für – für würdelos und rachsüchtig. Überdies kommt so etwas sicher sehr teuer, nicht wahr?»
«Ja, es kostet Geld.»
«Und hat wahrscheinlich keinen Zweck. Aber Sie müssen mit meinem Mann darüber sprechen. Er versteht Geschäftssachen viel besser als ich.»
Nach einer Weile fragte Poirot: «Was war Ihrer Ansicht nach der Grund für die Abänderung des Testaments?»
Jähe Röte stieg in Mrs Tanios’ Wangen. «Ich habe nicht die leiseste Ahnung», murmelte sie.
«Madame, ich bin, wie gesagt, kein Anwalt. Sie haben mich aber nicht gefragt, was ich bin.»
Sie sah ihn fragend an.
«Ich bin Detektiv. Kurz vor ihrem Tod schrieb mir Miss Emily Arundell.»
Mrs Tanios beugte sich mit zusammengepressten Händen vor. «Sie schrieb Ihnen? Über meinen Mann?»
Poirot ließ sie nicht aus den Augen und erwiderte langsam: «Leider darf ich diese Frage nicht beantworten.»
«Also doch über meinen Mann!», rief sie. «Was schrieb sie? Ich versichere Ihnen, Mr – eh, wie ist der Name?»
«Poirot. Hercule Poirot.»
«Ich versichere Ihnen, dass alles, was sie vielleicht gegen meinen Mann sagte, vollkommen unwahr ist! Ich kann mir denken, von wem dieser Brief ausging. Und auch das ist ein Grund, warum ich mit Theresa und Charles nicht das Geringste gemeinsam unternehmen will. Theresa hat meinen Mann nie leiden können! Sie hat ihn angeschwärzt! Ich weiß, dass sie das getan hat! Tante Emily war gegen meinen Mann eingenommen, weil er kein Engländer ist, und glaubte daher, was Theresa ihr über ihn sagte. Aber es ist nicht wahr, Mr Poirot, ich gebe Ihnen mein Wort!»
«Mutti, mein Brief ist fertig!»
Mrs Tanios wandte sich schnell um. Zärtlich lächelnd nahm sie den Brief, den das kleine Mädchen ihr reichte. «Hübsch, Liebling, wirklich sehr hübsch. Und die Mickymaus ist allerliebst gezeichnet.»
«Was soll ich jetzt machen, Mutti?»
«Möchtest du nicht eine schöne Ansichtskarte kaufen? Hier hast du Geld. Geh zu dem Mann in der Halle und such dir eine aus, die kannst du Selim schicken.»
Das Kind ging. Charles Arundell hatte Recht gehabt. Mrs Tanios war allem Anschein nach eine fürsorgliche Gattin und Mutter. Auch die Ähnlichkeit mit einem Ohrwurm stimmte.
«Ihr einziges Kind, Madame?»
«Nein, ich habe auch einen Jungen. Er ist mit seinem Vater ausgegangen.»
«Die Kinder kamen nicht mit Ihnen zu Besuch nach Basing?»
«Doch, manchmal. Aber Tante Emily war schon alt, und Kinder waren ihr lästig. Sie war jedoch immer gut zu ihnen und schickte ihnen schöne Weihnachtsgeschenke.»
«Wann sahen Sie Miss Emily Arundell zum letzten Mal?»
«Ich glaube, zehn Tage vor ihrem Tod.»
«Sie, Ihr Mann und Miss Theresa mit ihrem Bruder waren alle gleichzeitig in Littlegreen House, nicht wahr?»
«O nein, das war die Woche vorher – zu Ostern.»
«Aber Sie und Ihr Mann fuhren auch am Wochenende nach Ostern hin?»
«Ja.»
«War Miss Arundell damals bei guter Gesundheit und Laune?»
«Sie schien ganz wie sonst.»
«War sie nicht krank?»
«Sie lag im Bett wegen eines Unfalls, aber sie kam zu uns herunter.»
«Erwähnte sie etwas von einem neuen Testament?»
«Kein Wort.»
«Benahm sie sich Ihnen gegenüber anders?»
Die Antwort brauchte diesmal länger. «Ja», sagte Mrs Tanios.
Poirot hatte in diesem Augenblick bestimmt dieselbe Überzeugung wie ich: Mrs Tanios log!
Er schwieg eine Weile, dann sagte er: «Ich muss mich genauer ausdrücken. Ich meine nicht, ob Miss Arundell sich Ihnen beiden gegenüber anders benahm, sondern gegen Sie persönlich.»
«Ach so!», sagte Mrs Tanios. «Tante Emily war sehr nett zu mir. Sie schenkte mir eine kleine Perlenbrosche und gab mir zwanzig Shilling für die Kinder.» Die Worte kamen jetzt ungezwungen über ihre Lippen, ihre Zurückhaltung war verschwunden.
«Und gegen Ihren Mann? Benahm sie sich auch gegen ihn wie immer?»
Sogleich kehrte die Gezwungenheit wieder. Ohne Poirot anzusehen, antwortete Mrs Tanios: «Ja, natürlich. Warum auch nicht?»
«Da nach Ihrer eigenen Angabe Miss Theresa vielleicht versucht hat, Ihre Tante gegen Ihren Mann aufzuhetzen – »
«Bestimmt! Das hat sie ganz bestimmt getan!» Lebhaft beugte sich Mrs Tanios zu ihm. «Sie haben vollkommen recht. Tante war anders gegen ihn. Viel fremder, distanzierter. Sie tat etwas sehr Sonderbares. Er empfahl ihr eines seiner Rezepte gegen ihre Magenbeschwerden – ließ es selber in der Apotheke machen –, und sie dankte ihm sehr höflich und sehr steif – und später sah ich mit eigenen Augen, wie sie die Flasche in den Ausguss leerte.» Ihre Entrüstung war deutlich hörbar.
«Sehr sonderbar», bemerkte Poirot betont ruhig.
«Ich fand das so undankbar von ihr!», sagte Mrs Tanios hitzig.
«Alte Damen sind, wie Sie selbst sagen, manchmal gegen Ausländer misstrauisch. Für sie gibt es keine anderen Ärzte auf der Welt als die einheimischen. Übrigens, Madame, wann kehren Sie nach Smyrna zurück?»
«In ein paar Wochen. Wir – da kommt mein Mann mit Edward.»